Gastbeitrag von Prof. Dr. Heribert Hirte, LL.M. (Berkeley), MdB Köln/Berlin/Hamburg:
Streiks als legitimes Mittel im Arbeitskampf sollen Druck auf Arbeitgeber ausüben. Während dies in Industrie und Handel auch zumeist der Fall ist, sieht es im Dienstleistungsbereich oft anders aus. Die Hauptleidtragenden von Streiks sind hier häufig diejenigen, die von den bestreikten (in der Regel öffentlichen) Unternehmen abhängig sind, weil sie deren Dienste nutzen wollen. Denn sie bekommen das, was ihnen versprochen wurde (und was sie zum Teil dort „bestellen” mussten!), nicht oder jedenfalls nicht zum vereinbarten Zeitpunkt. Statt in die – auch verfassungsrechtlich geschützten – Rechte der Tarifvertragsparteien einzugreifen, sollte man in erster Linie die Rechtsstellung dieser „Drittbetroffenen” von Arbeitskämpfen verbessern.
Relativ einfach ist die rechtliche Situation im produzierenden Gewerbe; sie soll daher – auch wenn dort momentan nicht gestreikt wird – vorab in Erinnerung gerufen werden. Wird ein Automobilhersteller bestreikt und kann die bestellten Autos nicht liefern, erhält es von den Käufern (selbstverständlich) auch kein Geld. Das wird manchen Käufern aber nicht reichen, denn sie werden zumindest in vielen Fällen infolge der Nicht- oder verzögerten Lieferung auch Schäden haben. Für sie stellt sich daher die Frage nach Schadenersatzansprüchen. Die aber setzen nach deutschem Recht Verschulden voraus, und das wird für streikbedingte Lieferausfälle oder ‑verzögerungen ähnlich wie bei höherer Gewalt überwiegend verneint. Mindestens aber werden Allgemeine Geschäftsbedingungen, die für diese Fälle eine Schadenersatzhaftung ausschließen, den Abnehmer nicht „unangemessen benachteiligen” und deshalb etwaige Schadenersatzansprüche wirksam ausschließen.
Deutlich komplizierter aber liegen die Dinge bei den meisten Leistungen, die von den jetzt bestreikten (öffentlichen) Unternehmen erbracht werden. Denn ihr Tätigkeitsschwerpunkt liegt in der Erbringung von Dienstleistungen, sei es im Bereich Verkehr (Busse und Bahnen), der Kinderbetreuung (Kindergärten) oder in der Abfallbeseitigung (Müllabfuhr/Straßenreinigung). Zusätzliche Schwierigkeiten entstehen hier zudem dadurch, dass viele dieser Leistungen nicht auf der Grundlage privater Verträge, sondern auf der Basis öffentlich-rechtlicher Satzungen erbracht werden. Im Fall des Öffentlichen Nahverkehrs erschwert zudem eine Drei- oder Vierecksbeziehung zwischen Kunden, Staat und Leistungserbringern in Form von Verkehrsverbünden und einzelnen Transportunternehmen die Beurteilung.
Bei solchen Dienstleistungen bereitet es schon erhebliche Schwierigkeiten festzulegen, ob sie nicht oder nur verzögert erbracht wurden. Diese Unterscheidung aber ist, wie wir zuvor gesehen haben, von eminenter Bedeutung: Denn aus der Nicht-Leistung folgt grundsätzlich das Entfallen der Zahlungspflicht (§ 326 Abs. 1 BGB), aus der verzögerten Leistung (nur) eine verschuldensabhängige — und damit zu verneinende — Schadenersatzpflicht. Wann aber wurde die Betreuungsleistung seitens des Kindergartens, die Transportleistung seitens der Verkehrsbetriebe oder die Abfallbeseitigung seitens der Müllabfuhr „nicht” erbracht? Ist dies schon dann der Fall, wenn der Kindergarten morgens geschlossen ist, oder wenn die Müllabfuhr am vereinbarten Termin nicht kommt? Zweifel kommen bei Verkehrsleistungen ebenso wie „beim Müll” deshalb auf, weil und wenn die Transportleistung unter Umständen noch später erbracht oder der liegengebliebene Müll eine Woche später doch noch mitgenommen wurde. Rechtlich wie wirtschaftlich ist aber die Frage, ob dies noch die „geschuldete Leistung” ist: Denn wenn der nach Fahrplan um 6.10 Uhr abfahrende Zug erst um 10.10 Uhr abfährt, mag er zwar möglicherweise die gleiche Zugnummer haben, ist aber im Verständnis des Bahnkunden nicht mehr „derselbe Zug”. In Bezug auf Kompensationen bei Flugverspätungen nach VO (EG) 261/2004 hat deshalb z.B. der EuGH zu Recht entschieden, dass ein Flug bei mehr als drei Stunden Verspätung einem ausgefallenen gleichzusetzen ist und damit entsprechende Entschädigungsansprüche bestehen. Formal verständlich stellt die Verordnung (EG) Nr. 1371/2007 über Fahrgastrechte im Bahnverkehr vor diesem Hintergrund nur auf Verspätungen ab – und lässt die Frage der vollständigen Nichtleistung offen. Zudem gibt es bei Verspätungen in Verbindung mit den jeweiligen Beförderungsbedingungen bei Zeitkarten der 2. Wagenklasse nur einen Anspruch auf 1,50 € Entschädigung pro Strecke – und das auch nur in Bezug auf Eisenbahnen und nicht auf Busse und Straßenbahnen.
Und bei der Müllabfuhr liegen die Dinge spätestens dann genauso, wenn die Kalenderwoche abgelaufen ist, in der die Abfuhr erfolgen sollte. Es ist nicht anders, als wenn jemand eine Zeitschrift erst eine Woche nach dem Erscheinen auf seinem Schreibtisch vorfände. Rechtlich wird diese Lage als „absolutes Fixgeschäft” bezeichnet: Die vereinbarte Leistung kann nur zu einem bestimmten Zeitpunkt oder während eines bestimmten Zeitraums vertragsgemäß erbracht werden. Danach wird nicht mehr dieselbe Leistung (verzögert), sondern eine andere Leistung erbracht. Und das bedeutet, dass für die nicht erbrachte Leistung im Rechtssinne Unmöglichkeit eintritt und die Zahlungspflicht entfällt. Die Dinge liegen nicht anders als bei einem Arbeitnehmer (etwa einer Reinigungskraft), der einen Tag „blau” macht: Solange er für die an einem bestimmten Tag erbrachte Leistung bezahlt wird, kann er sich nicht darauf berufen, er habe die liegengebliebene Arbeit am nächsten Tag erledigt.
Das grundsätzliche Entfallen der Zahlungspflicht für die nicht erbrachten Dienstleistungen hat aber — und hier liegt das nächste Problem — meist nur geringe Folgen. Denn soweit die Leistungen individuell honoriert werden (Einzelfahrschein in öffentlichen Verkehrsmitteln), werden entsprechende Verträge im Falle eines Streiks naturgemäß gar nicht erst geschlossen. Anders liegen die Dinge freilich für im Voraus bezahlte Leistungen, wie dies für den öffentlichen Nahverkehr in Form von Zeitkarten, die Abfallbeseitigung in Form der typischerweise quartalsweise gezahlten Gebühren und für die Kindergartennutzung in Form monatlicher Zahlungen üblich ist. Hier entfällt die Zahlungspflicht zwar grundsätzlich für den Zeitraum der Nicht-Leistung. Doch — und damit drängen sich die nächsten Fragen auf — wie soll man den entsprechenden Minderwert der Leistung berechnen? Wie ist es zu bewerten, wenn in einem Verkehrsverbund nur ein einzelnes Unternehmen (z.B. die S‑Bahn) bestreikt wird, Busse und U‑Bahnen aber weiterhin genutzt werden können? Und zum anderen: Wie soll man seine Ansprüche bezüglich der typischerweise beim Einzelnen nur geringen Rückforderungsbeträge durchsetzen? Das Fehlen eines Instrumentariums zur kollektiven Rechtsdurchsetzung („Sammelklage”) zwingt hier in die Einzelklage mit im Einzelfall nur sehr geringen Streitwerten.
Leider verkomplizieren sich die Dinge weiter: Denn selbst wenn privatrechtliche Verträge z.B. mit den Kölner Verkehrsbetrieben oder der S‑Bahn Berlin bestehen, so werden diese doch typischerweise durch nach § 12 Allg. Eisenbahngesetz staatlich genehmigte (Allgemeine) Geschäftsbedingungen der Verkehrsverbünde und –unternehmen überlagert. In diesen heißt es meist: „Abweichungen von Fahrplänen durch Verkehrsbehinderungen, Betriebsstörungen oder ‑unterbrechungen sowie Platzmangel in den Fahrzeugen begründen keine Ersatzansprüche.” (vgl. insoweit z.B. § 17 Abs. 1 der Musterbeförderungsbedingungen Nahverkehr, der praktisch von allen deutschen Verkehrsverbünden übernommen wurde).
In gewöhnlichen Allgemeinen Geschäftsbedingungen dürfte eine solche Klausel, die das für das deutsche Zivilrecht zentrale Gegenleistungsprinzip außer Kraft setzt, ganz sicher unwirksam sein. Daher bleibt insoweit nur der Einwand, dass es „doch eigentlich nur um Kleinstbeträge” gehe, und man einen Ausschluss etwaiger Rechte mit dieser Begründung rechtfertigen könne. Nur: Ganz ähnlich wie bei der Frage der prozessualen Durchsetzung kommt es hier auf die Perspektive an. Auch wenn die Ansprüche des Einzelnen gering sind, machen sie doch angesichts der großen Zahl Betroffener eine erkleckliche Summe aus — das gerade macht ein Bestreiken der öffentlichen Dienstleistungsbetriebe so attraktiv.
Noch komplizierter liegen die Dinge dort, wo Leistung und Entgelt ausschließlich öffentlich-rechtlich, also insbesondere durch Satzung, geregelt sind. Denn das AGB-Recht gilt nach seinem Wortlaut für derartige Satzungen nicht. Und die ihm zugrundeliegenden Prinzipien werden im öffentlichen Recht nur wesentlich grober aus der Verfassung unmittelbar abgeleitet. Im Ergebnis kann allerdings auch hier nichts anderes gelten: Denn es wäre ein vor dem Hintergrund des unmittelbaren Wettbewerbs zwischen privaten und öffentlichen Unternehmen kaum mit dem Gleichbehandlungsgrundsatz zu vereinbarender Widerspruch. Sonst könnten die einen nicht erbrachte Leistungen berechnen, während die anderen erhaltene Gebühren oder Entgelte zurückzahlen müssten (Beispiel: eine Stadt hat die Wahlfreiheit, Sportanlagen durch privatrechtlichen Vertrag oder durch öffentlich-rechtlichen Bescheid zu „vermieten”). Eine entsprechende Satzungsbestimmung dürfte daher ebenso unwirksam sein wie eine AGB-Klausel, die eine Zahlungspflicht trotz unterbliebener Leistung festschreiben will.
Das bedeutet: Im Grundsatz entfällt auch hier die (öffentlich-rechtliche) Zahlungspflicht für die infolge Streiks nicht erbrachten Leistungen. Die Durchsetzung etwaiger Rückzahlungsansprüche kann aber – wie bereits ausgeführt — auf unüberwindliche Hindernisse stoßen. Und das ist vielleicht sogar beabsichtigt: Denn es führt zu dem merkwürdigen Ergebnis, dass z.B. in Falle der Müllabfuhr auf der einen Seite die Kommunen als Besteller der Leistungen Rückerstattungsansprüche gegenüber den Leistungserbringern haben, ihrerseits aber die Müllgebühren aufgrund der Satzungsregelungen nicht zurückerstatten müssen. Sollten sich die Leistungserbringer, sprich das Entsorgungsunternehmen, also auch in der öffentlichen Hand befinden, wird der Streik damit zum Nullsummenspiel oder führt gar zu „Gewinnen”: Während die Zahlungspflicht für die Löhne aufgrund des Streiks entfällt, fließt das Geld weiterhin in die öffentlichen Kassen. Somit zahlen nicht die Bestreikten die Zeche, sondern ausschließlich deren Abnehmer. Anders ist die Lage nur und erst dann, wenn aus den „freiwerdenden Mitteln” Ersatzaufträge finanziert werden; das ist aber die Ausnahme.
Diese unbefriedigende und einseitig Dritte belastende Lage kann und sollte der Gesetzgeber ändern: Eine Regelung müsste dabei – sowohl im privaten wie im öffentlichen Recht – zunächst einmal klarstellen, dass streikbedingte Ausfälle zwar keine verschuldete Nicht-Leistung darstellen, wohl aber „Unmöglichkeit” mit der Folge einer Rückzahlungspflicht etwa vorab bezahlter Vergütungen bedeuten. Wo klare und einfache rechtliche Verbindungen in Kenntnis des „Vertragspartners” bestehen (z.B. im Falle der Abfallbeseitigung), sollte die Rückzahlung nicht geschuldeter (Voraus-)Zahlungen automatisch erfolgen, also insbesondere ohne ein schwerfälliges Antragsverfahren. In Fällen der „Teil-Unmöglichkeit”, also wenn z.B. nur ein einzelnes Verkehrsunternehmen in einem Verbund bestreikt wurde, müsste zweitens geklärt werden, in welchem Umfang bei teilweiser Unmöglichkeit Erstattungen (und durch wen) zu leisten sind. Und schließlich müsste – drittens — jedenfalls sichergestellt werden, dass die aus „technischen Gründen” nicht rückzahlbaren Beträge jedenfalls dem Kunden und nicht etwa den ausführenden Unternehmen oder den allgemeinen (Kommunal-)Haushalten zugutekommen.
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