Die FAZ (29.2.2012, S. 16) berichtet, dass der HV der Volkswagen AG vorgeschlagen werden soll, den 74-Jährigen Ferdinand Piëch wieder in den Aufsichtsrat zu wählen. Der Bericht merkt an: „Mit Piëchs Wiederwahl verstößt Volkswagen gegen die Regeln guter Unternehmensführung (Corporate Governance)”. Das ist nicht zutreffend; eine solche Regel gibt es nicht.
Das Aktiengesetz kennt keine Altersgrenze und auch nicht der Deutsche Corporate Governance Kodex. Dort heißt es etwas kompliziert in Nr. 5.4.1.: „Der Aufsichtsrat soll für seine Zusammensetzung konkrete Ziele benennen, die … eine festzulegende Altersgrenze für Aufsichtsratsmitglieder …berücksichtigen.” Der Corporate Governance Bericht der VW AG formuliert dementsprechend: „Es sollen außerdem bei Wahlvorschlägen in der Regel keine Personen berücksichtigt werden, die zum Zeitpunkt der Wahl das 70. Lebensjahr vollendet haben.” Wenn der Aufsichtsrat bei seinem Wahlvorschlag (§ 124 III 1 AktG) eine ältere Person benennt ist das kein „Verstoß” gegen diese Vorgabe. In jüngerer Zeit wird gerne — auch in der FAZ — einer „Abweichungskultur” für den Kodex das Wort geredet. Dazu passt es nicht, wenn eine Regelverletzung (!) behauptet wird, sobald eine (vermeintliche) Abweichung in Sichtweite kommt.
Wenn wir schon bei der Altersgrenze sind, die Nr. 5.1.2 S. 7 DCGK für Vorstandsmitglieder empfiehlt – da machen Vorstand und AR der VW AG jetzt nicht mehr mit; sie haben gem. § 161 AktG am 27.2.2012 erklärt: „Eine Altersgrenze für Vorstandsmitglieder wird nicht mehr für angemessen erachtet, da die Fähigkeit, das Unternehmen erfolgreich zu führen, nicht generell bei Erreichen eines bestimmten Alters entfällt. Eine starre Altersgrenze könnte sich auch diskriminierend auswirken. Das Unternehmensinteresse kann eine Bestellung über das 65. Lebensjahr hinaus erfordern. Eine starre Altersgrenze erscheint daher nicht sinnvoll.” Passt in unsere Zeit („Die Alten müssen wieder ran”).
Leider findet sich die Aussage, dass gegen Empfehlungen des Kodex „verstoßen” werde bzw. Regeln des Kodex „verletzt” seien, nicht nur in der Presse. Sie taucht auch in einer ganzen Reihe von gerichtlichen — und darunter auch höchstrichterlichen — Entscheidungen auf (vgl. nur das Urteil „Umschreibungsstopp” BGHZ 182, 272 = NZG 2009, 342 Rn. 18: „Verstoß gegen die Empfehlung in Ziff. 5.5.3 S. 1 DCGK”). Auch im umfangreichen Schrifttum zu § 161 AktG entwickeln sich diese und vergleichbare Formulierungen zum geflügelten Wort.
Diese Fehlentwicklung hängt möglicherweise damit zusammen, dass die Empfehlungen (und Anregungen) des Kodex umgangssprachlich gerne mit dem Schlagwort „soft law” in Verbindung gebracht werden, obwohl sie nach wohl allg. Meinung gerade keine Rechtsnormen sind.
Richtigerweise kann als Verstoß im Rechtssinne nur ein Tun oder Unterlassen bezeichnet werden, das im Widerspruch zu verbindlichen Geboten oder Verboten der Rechtsordnung steht (Goslar/von der Linden DB 2009, 1691, 1692 li.Sp.; Goslar/von der Linden NZG 2009, 1337, 1138 Fn. 8). „Verstoßen” können Vorstand und Aufsichtsrat deshalb nicht gegen Kodexempfehlungen, sondern nur gegen ihre gesetzlichen Erklärungspflichten aus § 161 AktG.
Eine kleine etwas verschmitzte Anmerkung zum Thema Altersgrenze:
Betrachtet man das Thema anders herum, so statuiert das Aktiengesetz sehr wohl eine Altersgrenze für Aufsichtsräte: nach § 100 Abs. 1 AktG kann Mitglied des Aufsichtsrats nur eine natürliche, unbeschränkt geschäftsfähige Person sein. Personen unter 18 Jahren ist damit die Mitgliedschaft im Aufsichtsrat generell verwehrt.
Auch der Wortlaut der Kodex-Bestimmung lässt nicht eindeutig erkennen, ob eine Mindest- oder eine Höchstgrenze gemeint ist.
Und noch eins: der Kodex spricht lediglich von einer Altersgrenze, lässt deren Bestimmung aber offen. Denkbar wäre also auch eine Höchstaltersgrenze von 99 Jahren.
Letztlich wäre mit Blick auf die aktuelle Kandidatenlage zum Bundespräsidenten, die Anhebung des Renteneintrittsalters und die Entwicklung, dass immer mehr ältere Personen sich guter Gesundheit erfreuen, zu überlegen, ob die Empfehlung des Kodex noch zeitgenmäß ist bzw. selbst ihre Altersgrenze überschritten hat.