Derzeit ist Hochsaison für Hauptversammlungen. Fast jeden Tag füllt sich zu diesem Zweck ein Saal. Die dort Anwesenden repräsentieren freilich nicht das Aktionariat. Die Generaldebatte geht von A‑Z und hat oft wenig mit der Erledigung der Tagesordnung zu tun. Abstimmungen gründen praktisch nie auf dem Verlauf der Versammlung und sind selten spannend. Wozu diese — bei großen Gesellschaften siebenstellige Kosten verursachende — Veranstaltungen? Sind sie „alternativlos” oder könnte man darauf auch verzichten? Letzteres ist (de lege ferenda) der Fall, wenn man die Funktionen der HV betrachtet. Es geht um die Entscheidung wichtiger korporativer Angelegenheiten, etwa einer Kapitalmaßnahme. Darüber kann per Briefwahl abgestimmt werden (§ 118 II AktG); praktisch ist das eine Eingabe auf der Internetseite der Gesellschaft. Dort finden sich auch die notwendigen Informationen (Vorstandsbericht etc.) für diesen Beschluss. Fragen dazu können ebenfalls in einem Internetforum erledigt werden; das wäre für die Aktionäre nützlicher als nur die Beauskunftung der HV-Teilnehmer. Die Veranstaltung im Saal, die faktisch die meisten Aktionäre ausschließt, ist überflüssig. Die Funktionen der Information, Kommunikation und Entscheidung können sehr gut als digitale Prozesse organisiert werden.
Seit dem 19. Jahrhundert ist die HV eine jährliche Pflichtübung für Aktiengesellschaften. Das war berechtigt in einer Zeit, als die Aktionäre noch überwiegend Kaufleute aus der Region waren („Kirchturmaktionäre”). Sich zu treffen, um die Rechenschaft der Vorstände zu empfangen und Wichtiges selbst zu entscheiden: eine Selbstverständlichkeit. Für die bald zunehmende Zahl derjenigen, die nicht persönlich kommen, wurde die Stimmvertretung entwickelt und perfektioniert. Insbesondere das „Vollmachtsstimmrecht” der Banken hat im vergangenen Jahrhundert zu allerlei Debatten geführt, die heute schon vergessen scheinen. Mit der (unglücklich so genannten) „Briefwahl” ist seit 2010 die direkte Stimmabgabe vor und außerhalb der HV eröffnet. Der Gesetzgeber hat in Umsetzung der Aktionärsrechte-Richtlinie sogar eine elektronisch vermittelte Fernteilnahme an einer Präsenz-HV ermöglicht (§ 118 I 2 AktG). Aber das ist kein zukunftsfähiges Konstrukt: wer will schon den Tag am Monitor verbringen? Die verfahrene Diskussion über das Fragerecht dieser Fernteilnehmer zeigt, dass hier Feuer und Wasser versöhnt werden sollen.
Besser ist es, die Durchführung einer Präsenz-HV satzungsdispositiv zu stellen. Dann können die Gesellschaften entscheiden, ob und wie sie den sozialkommunikativen Effekt einer HV (auch die Medienaufmerksamkeit) haben wollen. Der eigentliche Zweck, die informierte Entscheidung durch die Aktionäre, kann und sollte davon getrennt werden. In der neueren rechtswissenschaftlichen Literatur finden sich dazu einige Ansätze, insbesondere der Vorschlag von Bachmann, § 118 I 1 AktG wie folgt zu fassen: „Die Aktionäre üben ihre Rechte in den Angelegenheiten der Gesellschaft in der Hauptversammlung aus, soweit das Gesetz oder die Satzung nichts anderes bestimmt”; s. Bachmann, FS G.Roth, 2011 (ders. AG 2011, 181, 190 f; ferner Hofstetter ZGR 2008, 560 ff; Hellgardt/Hoger ZGR 2011, 38 ff).
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