Ist die Wahl eines Aufsichtsratsmitglieds anfechtbar, weil ein Verstoß gegen die Entsprechungserklärung zum Corporate Governance Kodex vorliegt? Das ist ein neuerdings vieldiskutiertes und ersichtlich brisantes Thema. Das Landgericht Hannover urteilte vor Jahresfrist: „Werden … durch den Hauptaktionär benannte Mitglieder, bei denen ein dauerhafter Interessenkonflikt nicht auszuschließen ist, in den Aufsichtsrat gewählt, ohne dies durch Änderung der gemäß § 161 AktG abzugebenden Erklärung zum Deutschen Corporate Governance Kodex bekannt zu machen, ist dies als Gesetzesverstoß i.S.d. §§ 243 Abs. 1 S. 1, 252 Abs. 1 S. 1 AktG zu bewerten, der die Anfechtbarkeit des Wahlbeschlusses zum Aufsichtsrat zur Folge hat.” (Urteil v. 17.03.2010, Az. 23 O 124/09 – Continental AG).
Eberhard Vetter hat jüngst in der Festschrift für Uwe H. Schneider (2011, S. 1345 ff) die Problematik eingehend behandelt und folgendes Fazit gezogen: „Soweit in der Entsprechenserklärung auch die gegenwärtige und künftige Beachtung von Empfehlungen kundgetan wird, die die Wahl der Mitglieder des Aufsichtsrats durch die Hauptversammlung betreffen, können Abweichungen von der in der Entsprechenserklärung bekanntgemachten tatsächlichen Praxis der Gesellschaft, die nicht umgehend durch eine aktualisierte Entsprechenserklärung verlautbart werden, wegen des damit verbundenen Verstoßes gegen § 161 AktG zur Nichtigkeit des Aufsichtsratsbeschlusses über den Wahlvorschlag an die Hauptversammlung nach § 124 Abs. 3 Satz 1 AktG führen und dadurch die Anfechtbarkeit von Hauptversammlungsbeschlüssen über die Wahl der Aufsichtsratsmitglieder begründen, sofern es sich dabei um Verstöße gegen § 161 AktG in einem nicht unwesentlichen Punkt handelt.” Der Autor untersucht die einzelnen Kodex-Empfehlungen zum Aufsichtsrat dahin, ob eine Nichteinhaltung trotz positiver Erklärung einen schwerwiegenden Informationsmangel bedeutet, der die sachgerechte Wahrnehmung der Rechte der Aktionäre in der Hauptversammlung hindert. Diese Formulierung geht zurück auf die beiden Urteile des BGH zu Entlastungsbeschlüssen der Hauptversammlungen von Deutscher Bank AG und Springer AG. Im Jahr 2009 hat der BGH die Entlastungen für nichtig erklärt, weil jeweils im Bericht des Aufsichtsrates entgegen der veröffentlichten Entsprechenserklärung über aufgetretene Interessenkonflikte und ihre Behandlung nichts gesagt wurde.
Uwe Hüffer nahm in seinem Referat bei der Jahrestagung (2010) der Vereinigung für Gesellschaftsrecht den gegenteiligen Standpunkt ein: „Andere Beschlüsse als Entlastungsbeschlüsse, besonders Wahlbeschlüsse, sind nicht wegen eines Inhaltsfehlers anfechtbar, weil sie nicht auf die Billigung der Amtsführung gerichtet sind. Entgegen einer im Schrifttum entwickelten und in der Rechtsprechung der Instanzgerichte aufgegriffenen These leiden andere Beschlüsse der Hauptversammlung auch nicht deshalb unter einem Verfahrensfehler, weil der Vorschlagsbeschluss des Aufsichtsrats (§ 124 Abs. 3 Satz 1 AktG) angeblich nichtig ist.”
Das ist meines Erachtens im Ergebnis zutreffend. Die Nichtigkeit eines der Entsprechungserklärung nicht entsprechenden Aufsichtsratsbeschlusses (Wahlvorschlag) wäre eine zu drakonische Sanktion. Die Selbstbindung durch Erklärung hat keine gesetzesgleiche Kraft. Damit entfällt die Grundlage für die Argumentation, dass die Hauptversammlung durch den Wahlvorschlag unzureichend informiert worden sei; offenbar soll ein Informationsdefizit der maßgebliche Beschluss(verfahrens)fehler sein.
Der Berliner Kreis (eine Gesprächsrunde von Professoren, Rechtsanwälten und Unternehmensjuristen) hat die Frage vorige Woche ebenfalls erörtert. Als Lösung de lege ferenda wurde vorgeschlagen, einen Anfechtungsausschluss als Ergänzung zu § 161 AktG (nach dem Vorbild der § 120 IV 3, 243 III AktG) zu formulieren. Denn die mit der Anfechtung verbundene „gesetzesgleiche” Wirkung des Kodex zehrt an dessen Legitimation. Wie zu hören ist, wird sich der Deutsche Juristentag im kommenden Jahr mit dem Thema der Kodex-Regulierung befassen.
Meines Erachtens ist es verfehlt, aus einem Verstoß gegen die Erklärungspflicht gem. § 161 AktG die Nichtigkeit des Wahlvorschlags und — daran anknüpfend — die Anfechtbarkeit von Aufsichtsratswahlen herzuleiten. Die maßgeblich von Herrn Vetter und vom OLG München (ZIP 2009, 133 – „MAN”) entwickelte Gegenposition beruht auf einem Gedankengang, der sich in die folgenden vier Schritte zergliedern lässt:
(1) Nach der Rechtsprechung des BGH („Kirch/Deutsche Bank”; „Umschreibungsstopp”) müssen Vorstand und Aufsichtsrat ihre Entsprechenserklärung umgehend aktualisieren, wenn die Verwaltung entgegen der Ankündigung im zukunftsgerichteten Teil der letzten Erklärung „unterjährig” von einer Kodexempfehlung abweicht. Ein solcher Fall kann auch dann auftreten, wenn der Aufsichtsrat bei der Beschlussfassung über einen Wahlvorschlag, den er der Hauptversammlung unterbreiten muss, eine Kodexempfehlung außer Acht lässt.
(2) Weil Aufsichtsratsbeschlüsse die rechtliche Kategorie der Anfechtbarkeit nicht kennen, führt jeder formelle oder inhaltliche Rechtsfehler zur Nichtigkeit des Aufsichtsratsbeschlusses.
(3) Unterlassen Vorstand und Aufsichtsrat es unter Verstoß gegen ihre unter (1) beschriebene Pflicht, die Entsprechenserklärung zu aktualisieren, soll dies zu einem Rechtsfehler der Beschlussfassung des Aufsichtsrats über seinen Wahlvorschlag (und somit zur Nichtigkeit des Wahlvorschlags) führen.
(4) Ein nichtiger Wahlvorschlag steht einem unterbliebenen Wahlvorschlag gleich. Wird in der Hauptversammlung trotzdem eine Wahl zum Aufsichtsrat durchgeführt, kommt diese Wahl unter Verletzung des Gesetzes zustande (§ 124 Abs. 4 Satz 1, Abs. 3 Satz 1 AktG)und ist mithin anfechtbar (§ 251 Abs. 1 Satz 1 AktG).
Der Fehler dieses Gedankengangs liegt meines Erachtens im Schritt Nr. (3). Rechtswidrig und nichtig ist ein Beschluss des Aufsichtsrats (hier also sein Beschluss über den Wahlvorschlag an die Hauptversammlung) nämlich nur, wenn er entweder durch seinen Inhalt das Gesetz (oder die Satzung) verletzt oder ein Verfahrensmangel auftritt, der für das Zustandekommen dieses Beschlusses relevant wird. Beides ist aber nicht der Fall, nur weil Vorstand und Aufsichtsrat ihre Entsprechenserklärung unter Verstoß gegen ihre Pflichten aus § 161 AktG nicht aktualisieren. Denn der Verstoß gegen die Aktualisierungspflicht muss dem Aufsichtsratsbeschluss denklogisch zeitlich nachgelagert sein. Der Vorwurf, die Verwaltung habe ihre Pflicht zur unterjährigen Aktualisierung der letzten Entsprechenserklärung vernachlässigt, bedeutet nämlich einen Unterlassensvorwurf. Dieser kann nach allgemeinen Grundsätzen nicht erhoben werden, bevor eine entgegenstehende Handlungspflicht begründet worden ist. Die Pflicht zur Aktualisierung der Entsprechenserklärung entsteht aber denknotwendig erst dann, wenn entweder die Absicht zur Einhaltung einer Empfehlung geändert oder tatsächlich einer Empfehlung nicht mehr entsprochen wird. Das geschieht im vorliegenden Zusammenhang also erst, nachdem der Aufsichtsrat durch Beschlussfassung über den Wahlvorschlag bereits von einer Kodexempfehlung abgerückt ist. Mit anderen Worten kann eine Korrektur der Entsprechenserklärung naturgemäß nicht gefordert werden, bevor der Aufsichtsrat seinen Willen, von der Kodexempfehlung abzuweichen, durch Beschlussfassung wirksam gebildet hat.
Im Ergebnis steht deshalb der beanstandete Verstoß gegen die Aktualisierungspflicht aus § 161 außerhalb des Tatbestands eines wirksamen Aufsichtsratsbeschlusses. Hat der Aufsichtsrat erst einmal wirksam über seinen Wahlvorschlag beschlossen, so kann sich ein zeitlich späterer Verstoß gegen § 161 AktG nicht mehr auf die Wirksamkeit dieses Wahlvorschlags auswirken. Ausführlich dazu Goslar/von der Linden, DB 2009, 1691, 1695 f.
Ist nicht in der bisherigen Diskussion bislang zu wenig zwischen Inhaltsmängeln einerseits und Informationsmängel andererseits differenziert worden? Interessant ist vor allem der Informationsmangel. Es versteht sich von selbst, dass jegliche Publikation das Informationsbedürfnis der Hauptversammlung beeinflusst. Das gilt nicht nur für die Entsprechenserklärung, sondern vielmehr für den Jahresabschluss. Wenn man also die These formuliert, dass eine (offizielle) Publikation außerhalb der Hauptversammlung einen Informationsmangel in der Hauptversammlung begründen kann, dann ist das Feld noch viel weiter und die Diskussion über die Entsprechenserklärung erst der Anfang.
Zu einer differenzierten Lösung des Streites kann man gelangen, wenn man tradierte Rechtsprechung und Literatur zum Entlastungsermessen der Haupt-versammlung fruchtbar macht, vgl. ZGR 2009, 788, 796 ff.