Ein Lottospieler kann seinen Schein nicht ausfüllen, weil der Stift der Annahmestelle versagt. Er erhebt Klage auf den Millionengewinn. Begründung: Es sei nicht auszuschließen, dass er bei funktionierendem Schreibgerät die ausgelosten Zahlen angekreuzt hätte. In der Tat ist das nicht auszuschließen — aber den Prozess wird er verlieren.
Das ist anders im Aktienrecht, jedenfalls nach Auffassung der „hM”. Sie sagt: Wenn bei einer Hauptversammlung, bei der viele Millionen Aktien präsent sind, auch nur ein Aktionär mit einer Aktie zu Unrecht nicht zugelassen wurde – sind alle Beschlüsse anfechtbar. Es sei nicht auszuschließen, dass dieser eine Aktionär die Millionen überzeugt hätte, anders zu stimmen. Wahrscheinlichkeiten bedeuteten nichts. Kann das richtig sein? Und wenn künftig per Abstimmung im Internet („Briefwahl”; § 118 II AktG) schon vor der Versammlung eine Mehrheit erreicht ist?
Die Kirch/Deutsche Bank-Entscheidungen (BGH v. 16.2.2009, II ZR 185/07 und jüngst OLG Frankfurt/M. v. 15.6.2010, 5 U 144/09) beruhen auf dieser Gedankenkette: wäre der Aktionär hinreichend aufgeklärt worden (im Fall des BGH über den Interessenkonflikt), hätte er evtl. an der HV teilgenommen und es wäre evtl. ein anderer Beschluss gefasst worden; ebenso der OLG-Sachverhalt: wäre die Teilnahmebedingung für den Vertreter anders formuliert gewesen, hätte der Aktionär evtl. kurzfristig einen Vertreter geschickt — dann wäre evtl. alles anders gekommen … .
Ein toller Vergleich — treffender kann man die überzogenen Anforderungen mancher Gerichte im Aktienrecht nicht verdeutlichen.
Ich empfinde den Vergleich — unabhängig von der Richtigkeit der zitierten Entscheidungen — als unpassend. Grund hierfür ist die „Polizeifunktion” der Anfechtungsklage sowie der oft nur schwer einzuschätzende hypothetische Geschehensablauf. Im Übrigen sei auf die aktienrechtliche Treuepflicht hingewiesen, die für ggf. missbräuchliche oder treuepflichtwidrige Anfechtungsklagen in einen Schadensersatz münden kann. Da bei der Betroffenheit nur eines Aktionäres (meistens) der Mangel evident keinen Einfluss auf das Ergebnis gehabt haben wird, ist derartigen Klagen auch mit den vorhandenen Mitteln beizukommen ohne jedoch den grundsätzlichen Gedanken fallenzulassen. Hingewiesen sei auch auf das Ungleichgewicht zwischen Aktionär und Gesellschaft in Bezug auf die Häufigkeit derartiger „Mängel”.
Sicher macht die Übertreibung verschiedene Gegenstände plastischer, was aber nicht Anreiz zur übermäßigen Simplifizierung sein sollte.
Das ist ein generelles Problem des Kausalitätsbeweises — so wohl auch bei Rechtsmitteln im Prozess (vgl. etwa § 545 ZPO: „dass die Entscheidung auf einer Verletzung des Rechts *beruht*”). Mit den traditionellen Beweiserleichterungen kommt man dem aber nicht bei.
Ist ein Beschluss materiell rechtmäßig, gibt es bei klarer Mehrheit (Beispiel IKB – dort wären ja sogar Squeeze-Out oder Eingliederung möglich) keinen Grund irgendwelche Formalia einzuhalten. Denn die 3 % sonstigen Aktionäre werden nie das Beschlussergebnis beeinflussen. Dafür droht das Gesetz mitunter gar Nichtigkeit (!) an (etwa bei Formalia der Einberufung) – und das selbst bei verkürzten Fristen (Übernahme-HV…).
Solange wir keine bessere Sanktion (Stichwort: „Gegenanreiz“) finden, ist die Anfechtungsklage das geringste Übel (oder wollen wir wirklich, dass bei Formalverstößen die BaFin oder gar das lokale Ordnungsamt Bußgelder gegen die Gesellschaft und/oder die vorsätzlich/fahrlässig handelnden Organmitglieder verhängt?); Schadensersatz scheidet jedenfalls erst Recht aus (denn ein Schaden erwächst dem Aktionär aus der Nichtzulassung nicht – denn dazu müsste er einen doppelte Kausalitätsbeweis führen: Seine Anwesenheit führt zu anderem Beschlussergebnis *UND* dieses Ergebnis würde ihn wirtschaftlich besser stellen) und für Strafrecht scheint das Unrecht dann doch zu gering.
Darüber hat die Anfechtung den Charme einen „internen“ Primärrechtsschutz (also: keine staatliche Surrogation des HV-Beschlusses im Sinne des niederländischen Enquete-Rechts) zu gewährleisten.
Weiterhin ist zu bedenken, dass ohne diese Rechtsprechung für Unternehmen mit einem/mehreren wohlgesonnen Großinvestor(en) oft gar kein Grund mehr besteht, z.B. über Interessenkonflikte zu informieren. Der Großinvestor hat i.d.R. ohnehin eigene Informationsquellen. Wenn der einzelne bzw. Kleinaktionär keine Handhabe hat, kann die Gesellschaft ohne eine gerichtliche Klärung solche Informationen gepflegt unterschlagen.
Bei aller Sympathie für die Auffasung des Autors — der Vergleich ist ganz einfach unzutreffend. Der Lottospieler klagt nicht auf den Millionengewinn — er klagt auf eine Wiederholung der Ziehung! Und er gewinnt den Prozess auch nicht, wenn bei der Annahmestelle der Stift nicht funktioniert. Er gewinnt ihn nur, wenn der Tippspielveranstalter für einen funktionierenden Stift in der Annahmestelle Sorge zu tragen hatte und dies gesetzlich festgelegt war.