Der gesellschaftsrechtliche Rückblick in das vergangene Jahr kann kurz ausfallen: es war fast nichts los. Der europäische und der deutsche Gesetzgeber haben eine Pause eingelegt. Das ist grundsätzlich zu begrüßen, Entzugserscheinungen sind nicht aufgetreten. Die Normenflut zu verarbeiten ist nicht nur für die Wissenschaft ein Problem, sondern für die Unternehmen ist jede Anpassung mit Aufwand verbunden — auch dann, wenn es im Gesetzentwurf regelmäßig zu den Kosten heißt: „keine”. Selbst die Rechtsprechung des BGH hatte auf dem Gebiet des Gesellschaftsrechts nicht mit den ganz großen Entscheidungen aufzuwarten. Die Personalie um den überraschenden Vorruhestand des bisherigen Vorsitzenden des II. Zivilsenats und die Wiederbesetzung haben die interessierten Kreise bewegt. Die Praxis der Aktiengesellschaften bestritt die Hauptversammlungssaison in Umsetzung des ARUG und hat sich vor allem die (elektronische) Briefwahl als Option für dieses Jahr gesichert. Im GmbH-Bereich musste man sich an die Handhabung der neuen Gesellschafterliste gewöhnen, wobei die Aufgabenteilung zwischen Geschäftsführer und Notar unklar erscheint. Das GmbH-Derivat der Unternehmergesellschaft (haftungsbeschränkt) machte kräftige Fortschritte: inzwischen sind über 41 000 UG zu verzeichnen.
Umso mehr interessiert die Vorschau auf das Jahr 2011. Hier soll nicht nachträglich Silvesterblei gegossen, sondern konkret erkennbare Entwicklungen skizziert werden. Die erste Bestandsaufnahme ergibt, dass die Verjährung für Ansprüche gegen Vorstands- und Aufsichtsratsmitglieder börsennotierter Gesellschaften auf zehn Jahre erweitert wurde. Diese deutliche Verschärfung ist Anfang Januar in Kraft getreten. Sie ist hoch problematisch, da die Situation des ehemaligen Organmitglieds mit dem Zeitablauf immer schlechter wird und ihn die Beweislast trifft. Das Thema Managerhaftung wird erhalten bleiben. Die gleichnamige Arbeitsgruppe der Länderjustizminister ist mit weitergehenden Vorschlägen „am Markt”. Allerdings bleibt kaum mehr Sinnvolles. Die Idee, dass der Aufsichtsrat der Hauptversammlung über seine internen Beratungen betreffs Haftungsansprüche zu berichten hat, zählt nicht dazu.
Die kleine Aktienrechtsnovelle mit ihren vier Kernpunkten (ausschließlich Namensaktien für börsenferne Aktiengesellschaften; relative Befristung der Nichtigkeitsklage; umgekehrte Wandelschuldverschreibung; öffentliche Aufsichtsratssitzungen bei kommunalen Gesellschaften) wurde im November vergangenen Jahres vorgestellt und soll in diesem Herbst in Kraft treten. Insbesondere die Abschaffung der Inhaberaktie hat Kritik auf sich gezogen, da die befürchtete „Terrorfinanzierung” mit Hilfe dieser Aktienart doch sehr weit hergeholt erscheint. Wieder ist (nur) eine punktuelle Ergänzung des Beschlussmängelrechts vorgesehen, die das Freigabeverfahren abrunden soll; zu einer größeren Reform wird es nicht kommen. Die umgekehrte Wandelschuldverschreibung muss Einwände aus dem Lager der Kapitalerhaltung bestehen und es ist auch zu hören, dass die Praxis schon Gestaltungen gefunden habe, die eine gesetzliche Regelung nicht zwingend erforderlich erscheinen lassen.
Die Mitbestimmung ist und bleibt Tabu. Der Koalitionsvertrag erklärt, über die Größe der Aufsichtsräte werde man mit den Gewerkschaften reden – also eine Absage dritter Klasse. Mehr als Gerede ist die zunehmende Beliebtheit der Societas Europaea (SE) auch bei mittelständischen Unternehmen. Während Großunternehmen einen kleineren Aufsichtsrat vereinbaren, geht es den Mittelständlern um die Festschreibung des Mitbestimmungsstatus auf die Drittelparität, die auch dann weiter besteht, wenn die SE zukünftig mehr als 2000 Arbeitnehmer beschäftigt. Die Möglichkeit der freien Verhandlung der Mitbestimmung will ein mit Professoren bestückter Arbeitskreis generell, also für alle Kapitalgesellschaften, einführen – aber die Reaktion der offiziellen Rechtspolitik auf dieses heiße Eisen ist denkbar kühl. Soweit ersichtlich verhallte das Plädoyer für die Verhandlungslösung ungehört.
Hingegen wird das Thema „Frauen in Unternehmensorganen” am Köcheln gehalten. Der Deutsche Corporate Governance hat 2010 eine entsprechende Empfehlung ausgesprochen. Eine höhere Frauenbeteiligung in Führungspositionen sei im Interesse der Wirtschaft und könne durch flexible Instrumente der Selbstregulierung besser erreicht werden als durch ein starres Gesetz, erklärt die Regierungskommission. Eine solche gesetzliche Regelung wird teils als Drohungr, teils als Heilsbringer ins Gespräch gebracht. Sie ist klar abzulehnen. Der Staat hat kein Recht, die Zusammensetzung der Organe privater Gesellschaften gemäß einem Geschlechterproporz zu bestimmen. Ordnungspolitisch und letztlich auch verfassungsrechtlich würde insoweit ein schlimmer Sündenfall begangen. Wenn die hier und da zitierten „Studien” richtig liegen, dass Unternehmen mit hohem Frauenanteil in der Führung besser reüssieren, wird sich der gewünschte Effekt von selbst einstellen, da die Anteilseigner entsprechend reagieren werden (s. auch DB 2010, 2786).
Der Kodex ist nicht nur wegen der Empfehlung zur Frauenförderung, sondern aus weiteren Gründen in die Kritik geraten. Dazu gehört in erster Linie die Quasi-Verbindlichkeit, also seine gesetzesähnliche Wirkung. Gewiss darf eine börsennotierte AG den Kodex ganz oder teilweise nicht praktizieren. Aber gerade die DAX-Gesellschaften, die im Mittelpunkt des Kapitalmarkts stehen, können sich die Erklärung einer Abweichung praktisch kaum leisten. Hinzu kommt die jüngste Rechtsprechung des BGH, wonach nicht erklärte Kodex-Abweichungen als Anfechtungsgrund für Entlastungsbeschlüsse gelten, wenn nicht im Vorfeld der HV entsprechende Erklärungen abgegeben wurden. Schließlich wird eine zunehmende Empfehlungs-Regulierung beklagt, die als Nebenaktienrecht den Spielraum einengen bzw. als Blaupause für eine anschließende gesetzliche Festlegung verwandt werden. Vor allem aber ist die Konstruktion, dass eine vom Bundesjustizministerium berufene Kommission solche Regeln setzt, zunehmend Zweifeln ausgesetzt. Das Fundament eines Gesetzes würde die Legitimation der Kodex-Kommission gewiss stärken. Dass vom Kodex-Establishment zuweilen sehr gereizt auf die vorstehend referierte Kritik reagiert wird, macht die Sache nicht besser und ist eher Anlass, die Diskussion zu verstärken.
Von Deutschland nach Europa: Das europäische Unternehmensrecht dürfte in diesem Jahr vom Schlaf erwachen. Indikatoren dafür sind zumeist der Auftritt von Expertengruppen und Konferenzen. Eine solche Tagung gab es 2010 zur Evaluation der SE, dem im November ein „Bericht über Funktionsweise” folgte. Änderungsvorschläge der EU-Kommission werden erst für das Jahr 2012 erwartet. Offenbar will man den historischen Kompromiss von Nizza (2001), der die SE-Verordnung ermöglichte, möglichst nicht in Frage stellen.
Ein 13 Personen umfassender Kreis (aus Deutschland: Baums) bereitet derzeit im Auftrag der EU-Kommission eine Mitte 2011 stattfindende Konferenz vor, die sich auf drei Bereiche konzentrieren soll: Unternehmensmobilität, Kapitalsystem und Unternehmensstruktur. Bei der Mobilität der Gesellschaften in Europa geht es in erster Linie um die Richtlinie zur Sitzverlegung. Diese Richtlinie ist schon lange angekündigt, aber immer wieder verschoben worden. In der Praxis scheitert der Formwechsel über die Grenze häufig an der fehlenden Rechtssicherheit, insbesondere mit Blick auf das Verfahren. Die „Cartesio”-Rechtsprechung des EuGH konnte naturgemäß dazu keine Klärung bringen. Auch die Alternative der grenzüberschreitenden Verschmelzung nach der zehnten gesellschaftsrechtlichen Richtlinie ist bei Lichte betrachtet keine: Insoweit sind zwei Gesellschaften beteiligt, von denen eine im Zuge der Verschmelzung erlischt. Dieser Vorgang erfüllt nicht das Bedürfnis nach einem grenzüberschreitenden Formwechsel, bei dem sich eine Gesellschaft unter Wahrung ihrer rechtlichen Identität der Rechtsordnung eines anderen Mitgliedstaats unterstellt.
Das Finanzverfassungsrecht der Aktiengesellschaft ist seit dem Rickford-Bericht (2004) aus England, der für eine Aufgabe des in der Kapital-Richtlinie verankerten Prinzips eintrat, im Gespräch. Das im EU-Auftrag erstellte KPMG-Gutachten aus dem Jahre 2008 brachte ein Patt in der Abwägung der für und gegen das Grundkapital sprechenden Argumente und Praktiken. Ob ein neuerlicher Anlauf zu einer weiteren Revision der Richtlinie führt, darf nach alledem skeptisch beurteilt werden. Dasselbe gilt für die Frage nach der besseren Leitungsstruktur: dualistisches oder monistisches System? Hier spricht Vieles für eine Wahlfreiheit, wie sie für die SE bereits besteht. Mit Richtlinien zur Organisationsverfassung hat die EU keine Fortune. Der Entwurf einer Strukturrichtlinie ist anfangs der neunziger Jahre endgültig gescheitert und es verwundert durchaus, dass zwei Jahrzehnte später das soweit ersichtlich nicht vermisste Thema erneut auf die Agenda kommt.
Die SE soll endlich eine kleine Schwester bekommen: die Societas Privata Europea (SPE). Das Vorhaben einer „europäischen GmbH” ist seit Jahren im Werden. Nachdem Großbritannien, das die eigene Limited als gemeineuropäisches Vehikel sieht, offenbar den Widerstand aufgegeben hat, liegt es an Deutschland, den Weg freizumachen. Hierzulande hält man sich an zwei Fragen auf. Die eine betrifft das Stammkapital, auf das nicht ganz verzichtet werden soll, das aber auch nicht auf GmbH-Niveau zu liegen braucht. Ein Kompromiss in der Mitte lässt sich wohl finden, weshalb die Problematik der Mitbestimmung weitaus ernster ist. Hier ist die deutsche Position: keine Verkürzung bestehender Mitbestimmungsrechte, aber auch keine Ausdehnung. Wie diese Quadratur des Kreises aussehen könnte, ist noch ungewiss. Aber aus den Fraktionen der Koalitionsparteien ist zu hören, dass man für 2011 fest entschlossen sei, das Projekt in den europäischen Gremien durchzusetzen. Hoffnungen setzt man insbesondere auf die polnische Ratspräsidentschaft in der zweiten Jahreshälfte.
Die weitere rechtspolitische Agenda in der EU ist schemenhaft erkennbar. Dazu werden „Initiativen” für eine Frauenquote in Führungsorganen börsennotierter Unternehmen gehören, wie die EU-Justizkommissarin Reding angekündigt hat. Ein Anteil von 30 Prozent in Aufsichtsräten soll bis zum Jahr 2015 erreicht werden. Für eine Regelung durch eine Richtlinie gilt das zuvor Gesagte: Die starre Vorgabe wäre anmaßend und privatrechtsfern.
Zur Regulierung von Finanzinstituten und zur Abschlussprüfung liegen seit Herbst 2010 zwei Grünbücher der EU-Kommission vor, mit denen Programmtisches avisiert wird; ein drittes Grünbuch zur Corporate Governance börsennotierter Unternehmen ist avisiert. Darin werden weitreichende Eingriffe in die Unternehmensverfassung und Prüferwahl zur Debatte gestellt. Institutionelle Investoren sollen die Grundlagen ihrer Stimmrechtsausübung transparent machen und sich einem Investorenkodex unterziehen. Die vorgeschlagene Verpflichtung auf einen regelmäßigen Prüfertausch und die Verlagerung der Prüferauswahl auf eine Regulierungsbehörde hat im Dezember 2010 zu einem Novum geführt: In einem gemeinsamen Brief intervenierten die Prüfungsausschussvorsitzenden aller DAX30-Aufsichtsräte bei dem Binnenmarktkommissar Barnier. In der Tat: Wenn der Hauptversammlung das Recht genommen würde, den Abschlussprüfer zu bestellen, so wäre dies ein dirigistischer Eingriff, der einen weiteren Baustein für ein „Aktienamt” bedeutet. Im Nachhall der Finanzmarktkrise ist die Vorstellung offenbar populär, auch Nicht-Finanzinstitute zunehmend an die regulatorische Kette zu legen. Insoweit von einem „Klimasturz” im europäischen Unternehmensrecht sprach der ehemalige EU-Kommissar Günter Verheugen auf der Berliner Corporate Governance Konferenz im Juni 2010. Diese Entwicklung hin zu einer EU-Prädominanz in Fragen der Binnenorganisation von Unternehmensträgern ist Besorgnis erregend, aber wenig überraschend: Sie reiht sich ein in der allgemeinpolitische Beobachtung, dass die Finanz- und Währungskrise die zentralistischen Tendenzen in Europa forciert. Wenn nur ein Bruchteil dieser Grünbuch-Projektionen in den nächsten Jahren zu europäischen Richtlinien wird, kann man jedenfalls eines nicht mehr: so wie hier den Befund mit „fast nichts los” beginnen.
(Text erschienen in der Reihe „Standpunkte” in DB v. 7.1.2011 (Heft 1).
Halten Sie § 611a BGB bzw. das AGG auch für „ordnungspolitische Sündenfälle”, und wenn nein, worin sehen Sie den Unterschied?
Ja, AGG ist ein rechtspolitischer „Sündenfall”. Ich sehe das wie mein Kollege Adomeit: http://www.humboldt-forum-recht.de/deutsch/8 – 2008/beitrag.html
Man muss sich das einmal vorstellen: Da bezeichnet also ein Hochschullehrer das AGG als „rechtspolitischen Sündenfall”.
Das helle Licht der Aufklärung sollte uns doch eine Ahnung davon vermittelt haben, wonach wir in der Behandlung unserer Mitmenschen differenzieren sollten — und wonach nicht.
Dass Benachteiligungen aus Gründen der Rasse oder wegen der ethnischen Herkunft, des Geschlechts, der Religion oder Weltanschauung, einer Behinderung, des Alters oder der sexuellen Identität nicht hinzunehmen sind in einer aufgeklärten LEISTUNGSGESELLSCHAFT, ist eine Selbstverständlichkeit; ebenso selbstverständlich ist es, dass der Gesetzgeber diese Selbstverständlichkeit rechtlich absichert. Das AGG ist gesetztes Vernunftrecht!