Ein für die amtliche Sammlung vorgesehenes Urteil des II. Zivilsenats (II ZR 142/14) befasst sich mit der Absage einer Hauptversammlung, die vom Vorstand auf Verlangen gem. § 122 I 1 AktG einberufen wurde. Die Kompetenz zur Absage stehe auch in diesem Fall dem Vorstand zu, ohne dass zusätzliche Erfordernisse zu verlangen sind oder die Pflichtwidrigkeit der Absage eine Rolle spielt (Rn. 23 ff).
Die Anschlussfrage lautet: Bis wann kann der Vorstand absagen? Der Senat findet dazu einen für ihn „unergiebigen Meinungsstand im Schrifttum” (Rn. 29, 51) vor. Immerhin berichtet er, dass dort einhellig auf den Zeitpunkt der (förmlichen) Eröffnung der Hauptversammlung abgestellt werde. Indessen sei eine „förmliche Eröffnung der Hauptversammlung nach dem Gesetz nicht erforderlich” (Rn. 29, 36). Das Gericht nimmt eine „Interessenabwägung” vor (resümierend Rn. 34) und befindet: Die von ihm einberufene Hauptversammlung kann der Vorstand nicht mehr wirksam absagen, wenn sich die am Versammlungsort erschienenen Aktionäre nach dem in der Einberufung für den Beginn der Hauptversammlung angegebenen Zeitpunkt im Versammlungsraum eingefunden haben.
Damit war im Fall des BGH die HV nicht mehr vom Vorstand abzusagen. Die Pointe kommt jetzt: Da angesichts der vom Vorstand bewirkten Verwirrung um die Absage etliche Aktionäre nach Hause gegangen waren, sei deren Teilnahmerecht verletzt (Rn. 39), mithin die Beschlüsse der dennoch durchgeführten HV anfechtbar. Von wem? Vom Vorstand (§ 245 Nr. 4 AktG), dessen Anfechtungsbefugnis nicht dadurch ausgeschlossen sei, dass er die Anfechtbarkeit des Beschlusses mitverursacht hat.
Dazu Wackerbarth im Rechtsboard mit kritischer Anmerkung:
„Nähme man das Urteil beim Wort, so bedeutete das: die Minderheit kann hier nicht einmal einen Antrag nach § 122 Abs. 3 AktG auf gerichtliche Ermächtigung stellen. Denn dieser Antrag setzt ja die Ablehnung des Verlangens der Minderheit oder eben eine spätere Absage der einmal einberufenen Versammlung voraus. Aber hier war die HV nicht wirksam – sondern eben nur: unwirksam – abgesagt. Daher müsste die Minderheit erneut ein Verlangen nach § 122 Abs. 1 AktG stellen und der Vorstand könnte das Spielchen endlos wiederholen, ohne dass es jemals den gesetzlich vorgesehenen Ausgang für die Minderheit nähme – lässt man einmal § 242 BGB außen vor, der irgendwann dem Spuk ein Ende setzte.
Der BGH hätte hier vielmehr die Konsequenzen aus seinen vorherigen Erwägungen ziehen müssen. Ist die Hauptversammlung nicht abgesagt, so muss gelten: hic Rhodos, hic salta. Eine Verletzung des Teilnahmerechts der Aktionäre, die in Fällen wie diesem ja letztlich freiwillig gehen, ist zu verneinen: Dass irgendjemand unwirksame Verfahrenshandlungen vornimmt, müssen die Anwesenden stets hinnehmen, ohne deshalb gleich zur Anfechtung berechtigt zu sein. Schließlich endet ein Fußballspiel ja auch nicht, nur weil ein Zuschauer eine Trillerpfeife dabei hat und zum Abpfiff benutzt. Und nach Beginn der Versammlung war der Vorstand eben nur noch Zuschauer. Alles andere verstieße gegen das Selbstorganisationsrecht der Hauptversammlung. Wenn z.B. der aus wichtigem Grund abgewählte Versammlungsleiter anschließend bekannt gibt, dann sei die Hauptversammlung „eben jetzt zu Ende“, kann dies nicht die vom rechtmäßig gewählten Versammlungsleiter durchgeführte Versammlung und Beschlussfassung anfechtbar machen. Das muss auch gelten, wenn einige Aktionäre das nicht wissen und einfach gehen. Richtigerweise tun sie das auf eigenes Risiko.”
Lieber Herr Noack,
ich finde es wirklich überaus freundlich formuliert, diese Wendung des Urteils als „Pointe” zu bezeichnen. Der BGH gestattet dem Vorstand damit in Fällen, in denen es „darauf ankommt” (namentlich wenn unliebsame Sonderprüfungsanträge gestellt werden), dem Ansinnen der Minderheit zum Schein nachzukommen und am Tag der HV „Ätschi-Bätsch” zu sagen. Kann die Minderheit wenigstens einwenden, der Vorstand könne sich evtl. nicht auf sein vorangegangenes rechtswidriges Tun — die unwirksame Absage — berufen? Doch, so der II. Senat, es war ja alles nur ein „Irrtum”. Und das „Beste” daran: Da die HV nicht wirksam abgesagt war, ist der Vorstand ja dem Minderheitsverlangen nach § 122 Abs. 1 AktG „nachgekommen”. Das bedeutet: die Minderheit kann nicht einmal einen Antrag nach § 122 Abs. 3 AktG stellen, sondern muss wieder abwarten, bis der Vorstand kurz nach Beginn alles absagt, usw. usf. Das Spielchen kann — jedenfalls wenn man das Urteil ernst nimmt — endlos ohne guten Ausgang für die Minderheit wiederholt werden.
Ich glaube nicht, dass der Gesetzgeber mit § 122 AktG der Minderheit tatsächlich ein durch den Vorstand beliebig zu hintertreibendes Verfahren geben wollte, wie der BGH annimmt.
Aber bei diesem II. Senat ist ohnehin Hopfen und Malz verloren.
Viele Grüße
Ulrich Wackerbarth
Lieber Herr Wackerbarth,
da in Ihrem Beispiel „die HV nicht wirksam abgesagt war”, befanden sich die Aktionäre offenbar bereits im Versammlungsraum. In diesem Fall brauchen sie nicht heim zu gehen, die nicht abgesagte HV wird ja durchgeführt. Dabei werden auch etwaige Sonderanträge behandelt.
Wenn der Vorstand aber auf die Idee kommt, die Aktionäre nicht in den Versammlungsraum zu lassen, um die HV absagen zu können, greift § 122 Abs. 3 sehr wohl ein. In diesem Fall ist der Vorstand dem Minderheitsverlangen nachgekommen. So dramatisch, wie Sie es darstellen, ist die Lage wohl doch nicht.
Mit besten Grüßen
Rafael Harnos
Es soll natürlich heißen: „In diesem Fall ist der Vorstand dem Minderheitsverlangen nicht nachgekommen.”
Lieber Herr Harnos,
doch, ist sie: Der Witz ist ja gerade, dass die HV nicht abgesagt ist (daher keine Anrufung des Gerichts nach § 122 Abs. 3), der Vorstand durch seine (unwirksame) verspätete Absage aber sämtliche Beschlüsse anfechtbar machen kann — jedenfalls nach Auffassung des BGH.
Beste Grüße
U.W.