Die Hauptversammlung ist in einer Sinnkrise“

Aus einem Inter­view mit Prof. Dr. Ulrich Sei­bert (BMJV); das Gespräch führte Marc Tüng­ler, DSW e.V. Erst­ver­öf­fent­li­chung BOARD 2/2016; wei­tere Ver­öf­fent­li­chung Going­Pu­blic.

BOARD: Die Haupt­ver­samm­lun­gen wer­den oft­mals von der Ver­wal­tung als zu lang, träge und läs­tig emp­fun­den? Warum ist das Ihrer Ansicht nach so? 

Sei­bert: Das sind tra­di­tio­nelle Ein­schlei­fun­gen. Man hat über Jahr­zehnte Angst­re­flexe auf­ge­baut vor den Anfech­tungs­kla­gen wegen for­ma­ler Feh­ler und man­geln­der Beant­wor­tung von Fra­gen. Das Akti­en­recht hat sich aber geän­dert. Der Gesetz­ge­ber hat deut­lich gemacht, dass eine nor­male Haupt­ver­samm­lung nicht län­ger als 2 – 4 Stun­den dau­ern sollte, das Geschäfts­mo­dell erpres­se­ri­scher Klä­ger funk­tio­niert seit UMAG und ARUG nicht mehr. Die Anfech­tungs­kla­gen gegen HV-Beschlüsse mit Regis­ter­sperre sind um bis zu 90% zurück­ge­gan­gen. Aber die Angst scheint immer noch in den Kno­chen zu ste­cken. Gewohn­hei­ten in den gro­ßen Kon­zern­müh­len und der Bera­tungs­wirt­schaft ändern sich nur langsam.” 

BOARD: Im AktG wur­den gerade in den letz­ten Jah­ren viele Ände­run­gen auch rund um die HV vor­ge­nom­men. Was war dabei Ihr Ansatz? 

Sei­bert: Wir haben seit der Jahr­tau­send­wende in zahl­rei­chen Schrit­ten das Akti­en­recht, aber vor allem auch die Haupt­ver­samm­lung auf die digi­tale Zukunft vor­be­rei­tet: Stimm­rechts­voll­mach­ten nicht mehr in Papier, son­dern elek­tro­nisch, Stimm­rechts­aus­übung über einen Stimm­rechts­ver­tre­ter der Gesell­schaft, Ein­füh­rung der elek­tro­ni­schen Brief­wahl, elek­tro­ni­scher Bun­des­an­zei­ger, Abschaf­fung der Bekannt­ma­chun­gen in Papier­zei­tun­gen, Ermög­li­chung elek­tro­ni­scher Ein­la­dun­gen, Zugäng­lich­ma­chen” von Mit­tei­lun­gen, FAQ und Anträ­gen auf der Web­site der Gesell­schaft, AR-Sit­zung per TelKo, HV-Über­tra­gung im Fern­se­hen, Spar­ten­fern­se­hen oder per Strea­ming im Inter­net, Zulas­sung der elek­tro­ni­schen Teil­nahme an der HV, Zulas­sung des Fra­ge­rechts der Aktio­näre über das Inter­net mit weit­ge­hen­der Sat­zungs­au­to­no­mie und mög­li­cher Ein­schrän­kung des Anfech­tungs­rechts. Das Ziel war: Alle Mög­lich­kei­ten eröff­nen, ohne dazu zu zwin­gen. Was die Wirt­schaft mit der HV will, muss sich in der Wirt­schaft und nach den Markt­be­dürf­nis­sen ent­wi­ckeln; das Gesetz soll nicht behindern.” 

BOARD: Wo sehen Sie die deut­sche HV in zehn Jahren? 

Sei­bert: Das weiß ich nicht. Zehn Jahre sind schnell und lang­sam. Die Wirt­schaft muss sich zunächst ein­mal dar­über Gedan­ken machen: Wel­chen Zweck soll die Haupt­ver­samm­lung der Zukunft erfül­len, was soll sie leis­ten? Die tech­ni­schen Fra­gen sind weit­ge­hend gelöst, aber eben die Sinn­frage, die Grund­satz­frage nicht. Soll die HV ein rei­ner Beschluss­pro­to­kol­lie­rungs­ter­min sein? Das kann man in 30 Minu­ten erle­di­gen. Soll sie eine Mar­ke­ting­ver­an­stal­tung, ein welt­weit live gestream­ter Event wie z.B. am 30. April erst­mals von Buf­fet aus Omaha, ein Erwe­ckungs­got­tes­dienst sein? Oder soll sie der Kom­mu­ni­ka­tion und dem Mei­nungs­aus­tausch mit den Aktio­nä­ren über die Unter­neh­mens­stra­te­gie die­nen – was mit der der­zei­ti­gen Prä­senz-HV kaum mög­lich wäre. Solange diese Klä­rung nicht erfolgt, wird das alte, ange­staubte Aus­stat­tungs­stück weitergespielt.”

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